Postfaktisch – das Wort des Jahres 2016

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Postfaktisch – das Wort des Jahres 2016          

Eine psychodynamische Betrachtung

von Markus Jensch

 

Als ich zum ersten Mal dem Wort begegnet bin, dachte ich: das klingt aber interessant!

Da ich mich selbst in einer individualpsychologisch geprägten Denk-, Fühl und Verhaltens-„Blase“ befinde und entsprechend wahrnehme, regte sich in mir ein großes Interesse daran, die semantische Bedeutung dieses Wortes zu hinterfragen. Im folgenden kleinen Beitrag möchte ich das Wort des Jahres 2016 mit der ADLERianischen Brille scannen und meinen Senf dazu geben.

 

Seit einigen Jahren ist vermehrt zu beobachten, dass Fakten nicht mehr unbedingt zur Findung der Wahrheit herangezogen werden. Putins Besetzung der Krim war ein dreistes Beispiel für die Beugung der Wahrheit. Die „grünen Männer“ mit fehlenden Hoheitszeichen schienen aus dem Nichts zu kommen. Jeder vorgelegte „Beweis“, dass es sich um russische Soldaten handelt, wurde beharrlich geleugnet. Ein Heer von sog. „Trollen“ schrieb auf sämtlichen Foren, dass es sich bei den Beweisen um typische Fälschungen des aggressiven Westens handele. Die Unterstellungen gingen so weit, dass lanciert wurde, ukrainische Soldaten würden den Russen militärische Interventionen unterstellen wollen. Aggressive ukrainische Faschisten würden die friedliebenden Russen auf diese Weise anprangern wollen. Die Unterstellungen wurden so lange wiederholt, bis keiner mehr wusste, welche Fakten denn nun „richtig“ waren.

 

Über die Ursachen des Abschusses eines zivilen Verkehrsflugzeuges über der Ostukraine wurde jahrelang gepokert. Die Aufklärung holländischer Spezialisten wurde wiederum so lange in Frage gestellt, bis beide Lager (West und Ost) am Ende „Recht“ behielten. Auch der Krieg in der Ostukraine wurde mit derselben Taktik so lange zerredet, bis heute niemand mehr wirklich daran interessiert ist, die Wahrheit zu erfahren. Penetrante Wiederholung der jeweiligen Unwahrheit/bzw. Pseudowahrheit und Unterstellung der Lüge gegenüber dem Gegner taucht bis heute die Kriegshandlungen in einen zwielichtigen Schatten. Die Internetforen werden von Troll-Armeen und automatischen „Bots“ gezielt bedient und tragen zur Verwirrung bei.

 

Die Fakten (das Faktische) wird in gezielten Blasen so verpackt, dass sie wie Vexierbilder mal so oder so wahrzunehmen sind. Hitler und sein genialer Widersacher Churchill haben sich schon vor achtzig Jahren ähnliche Schlachten geliefert: das Faktische jeweils so zu manipulieren, dass es  für die eigenen Parteien „faktisch richtig“ erschien.

 

Trump und Clinton bewarfen sich im US-Wahlkampf mit Fakten, die z.T. komplett aus dem Setzkasten der Hirngespinste stammten. Durch permanente Wiederholungen wurden die „Lügen“ zu wahrheitstauglichen Fakten. Hinterher interessierte es niemanden mehr, was vor Monaten wahrheitswidrig behauptet wurde. Hauptsache: die Lüge passte in das Konstrukt der Unterstellung und machte „Sinn“ aus der Sicht der jeweiligen Partei. Das Faktische wurde gezielt so bearbeitet, dass es in das Konzept des Angreifers passte. Hitler und Mussolini waren Meister des Verdrehens von Tatsachen. Sie versuchten allerdings, eine gewisse nachvollziehbare Logik in ihre Argumentationsketten einzubauen.

 

Als ich die ersten Reden von Trump hörte, war ich perplex, wie ein Bewerber für ein so herausragendes Amt derart dreistfrech auftreten konnte. Ich stellte aber fest, dass ich nach einiger Zeit fest mit dieser Masche von ihm rechnete – und war verwundert, wenn er mal ein versöhnliches Wort in seine Tiraden einmischte. Die – eigentlich normale – kooperative Geste ragt aus einem Meer von Lügen eben als etwas ganz Wertvolles heraus. Alles ist relativ.

 

Die schrillen Behauptungen der Brexitbefürworter, die ungehobelten Attacken der Pegidisten, der Wilders, Le Pens, Gaulands und Höckes setzten im letzten Jahren der erlaubten Beugung der Wahrheit – des Faktischen – die Krone auf. Überprüfbares, seriöses Argumentieren scheint out zu sein. An sog. FaktenChecks scheint niemand mehr wirklich interessiert zu sein. Die freche Falschbehauptung ist hoffähig geworden. Und wer sich ihrer nicht bedient, wird bestraft.

 

Ist die Beugung des Faktischen eigentlich so neuartig, dass man ein Jahres-Wort daraus ableiten kann? Ich habe oben schon auf Mussolini, Hitler (Goebbels) und Churchill hingewiesen. Ich hätte aber auch andere Tatsachen bemühen können – wie die systematische Lüge im Rahmen der Werbung: Zigtausendfache Wiederholung von falschen Versprechungen suggerieren uns die versprochene Wirksamkeit, bis wir davon überzeugt sind, dass die Fakten stimmen. Im Grunde handelt es sich um die Prophezeiung, die eintritt, sobald sie mehrfach ausgesprochen ist. Aus diesem psychologischen Stoff ist die „Sich-selbst-erfüllende Prophezeiung“ gestrickt: Think positiv – dieser amerikanische Weg zum Guten und Erfolgreichen führt (angeblich) zum avisierten Ziel. Umgekehrt führt die wiederholte gezielte Schmähung zum Gegeneffekt: Der Geschmähte, Verdächtigte verliert sein Gesicht – sein Ansehen: eine spätere Rehabilitation nützt ihm da wenig. Dies mag der Grund dafür sein, warum in Deutschland vergleichende Werbung verboten ist. Sie zu umgehen ist dennoch ein leichtes Spiel (z.B. mit eingekauften Warentest-Ergebnissen).

 

Doch was hat das mit dem Begriff „postfaktisch“ zu tun, über den ich versprach, hier aus individualpsychologischer Sicht einige Betrachtungen anzustellen?

 

Vor gut hundert Jahren hat Alfred ADLERs den Begriff „tendenziöse Apperzeption“ in seiner ganzheitlichen Psychologie detailliert dargestellt. Adler beschrieb mit diesem Begriff die individuelle Schöpfung einer eigenlogischen Wirklichkeit, ohne die das Individuum nicht in der Lage ist, die unendliche Vielfalt um sich herum sinnvoll auszuwählen und für den eigenen Gebrauch zu strukturieren. Das Faktische wird  solange bearbeitet,  bis es für den eigenen Gebrauch gut zu verdauen ist. Zögerer und Skeptiker wittern fast überall die Gefahren und sehen sie gewissermaßen in die Abläufe hinein. Optimisten übersehen dagegen gern die gefahrvollen Aspekte. Adler sprach vom Lebensstil (vom Ordnungsschema), der die Welt in überschaubare Rubriken presst, damit die wichtigen Aspekte leicht abzurufen bzw. einzuordnen sind. Er nannte dieses Ordnungsschema auch „private Logik“. Und keiner von uns hat keine private Logik. Bislang wurde sie meist unbewusst eingesetzt: die wenigsten machen sich Gedanken über ihre privaten Sortier-Mechanismen. Solange sie funktionieren, besteht in der Regel wenig Anlass, sie in Frage zu stellen. Wenn sie nicht mehr funktionieren und dadurch große Unordnung entsteht oder Streit mit den Mitmenschen, ist ein gezieltes Betrachten und Nachjustieren angesagt.

 

Wir nennen diese Nachjustierung oder Neu-Synchronisierung der gespeicherte Fakten mal Psychotherapie, mal Beratung oder seit einigen Jahren auch Coaching. Die private Logik wird dann so eingerichtet, dass sie in den meisten Fällen mit den Bewertungskriterien der Mitmenschen irgendwie vergleichbar ist. Die Sortierung bleibt aber in jedem Falle „eigenlogisch“. Eindeutige Fakten existieren nicht. Selbst so etwa Objektives wie die Zahl 10 ist für ein dreijähriges Kind groß und für einen Vierzigjährigen klein, denn die Bezugsgrößen im Zahlenraum sind für beide sehr unterschiedlich. Und für einen Vierzigjährigen sind 10 Gramm mal wenig – wenn es sich z.B. um Schokolade handelt und mal viel, wenn es sich um ein Betäubungsmittel handelt. Selbst so nackte Tatsachen wie Zahlen stehen für uns Menschen immer in einem Bedeutungsfeld und unterliegen von daher der privaten Logik.

 

Nun wird der Begriff „post-faktisch“ erst gebraucht, seitdem die systematischen, gezielten Verbiegungen der erlebten Wahrheit Mode geworden sind und seitdem einige Menschen keinerlei Skrupel haben, solche Verbiegungen für ihre Zwecke zur Manipulation anderer zu nutzen. Aber warum soll dieses Phänomen „post“-faktisch heißen? Wenn die gezielte Manipulation erdacht wird, ist sie „prä“-faktisch. In ihrer Wirkung auf den Adressaten ist sie dann – je nach Zielsetzung – „pro“-faktisch oder „contra“-faktisch oder „anti“-faktisch. Vom Ende aus betrachtet war die Manipulation dann „post“-faktisch.

 

In jedem Falle aber ist der zwischenmenschliche Austausch von den „privaten Logiken“ der Beteiligten durchwirkt. Die private Logik kann bewusst zur Manipulation eingesetzt werden. Sie wird aber auch – und das liegt wohl in den meisten Fällen vor – unbewusst übermittelt. Die Gesamtheit der Verdrehungen, Manipulationen oder Lügen als „post“-faktisch zu bezeichnen, erscheint mir ein Rückschritt gegenüber der Vielfalt der Betrachtungsmöglichkeiten zu sein.

 

Da Fakten immer durch menschliche Interpretation begleitet werden, sind sie als solche eigentlich nicht bedeutsam. Legen wir den „Faktor Mensch“ über die Fakten, erlangen diese erst einen „Wert“ für uns. Aus dem Faktum wird je nach dessen „Behandlung“ eine Lüge, eine Illusion, eine Hoffnung, eine Enttäuschung, eine Provokation, ein Versprechen, eine Unterstellung und vieles mehr – mal angstvoll, mal hoffnungsvoll stimmungsmäßig begleitet.

 

Was also haben wir mit dem „Begriff des Jahres“ gewonnen? Der Begriff ist – wie oben beschrieben – undifferenziert, willkürlich und wenig nützlich.

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