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Sarrazins Fake-News in seriösem Gewande

von Markus Jensch
Vor acht Jahren habe ich das Buch von Thilo Sarrazin gelesen. Ich entschloss mich, einen Beitrag dazu zu verfassen. Heute – im Sommer 2017 – sind die Gedanken von Sarrazin total aktuell. Die Folgen, die Deutschland mit der Flüchtlingswelle meistern muss, verleihen dem Beitrag erneut Brisanz. Die AfD bedient sich vieler Argumente des Autors Sarrazin. Deshalb denke ich, dass mein kritischer Beitrag acht Jahre später wieder lesenswert ist:
Thilo Sarrazin hat mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ einen Impuls gegeben für eine Auseinandersetzung mit der Integrationsproblematik von Migranten in Deutschland. Mit einem wahren Feuerwerk von Statistiken überrollt er den Leser förmlich. Beeindruckt und verärgert war ich, nachdem ich mich mit der Lektüre ein paar Tage beschäftigt hatte. Beeindruckt, weil Sarrazin eine Fülle von Zahlen und Belegen aller Art präsentiert, die von seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Problematik Zeugnis geben. Verärgert, weil er sich in selbstgefälliger Manier über Sachverhalte äußert, die er vorgibt zu verstehen, über die er aber offensichtlich nicht den Kenntnisstand hat, den er haben müsste, um derart überheblich damit argumentieren zu können. Ich meine hier besonders die Themenbereiche „Intelligenz“ und „Genetik“. Intensiver möchte ich deshalb eingehen auf seine interessengeleitete Auswahl von Fachliteratur und seine Auswahl von Zitaten zu den Themen „Genetik“ und „Intelligenz“.
Mir ist in den letzten beiden Jahren das Thema „Epigenetik“ häufig begegnet. Ich habe mich diesem neuen Zweig der Biologie mit Interesse zugewendet. Es handelt sich bei der Epigenetik um ein Fachgebiet, das sich – über den Rahmen der traditionellen Genetik hinaus – wissenschaftlich mit den Umfeldbedingungen beschäftigt, die auf die Wirkung der Gene Einfluss nehmen. Vor fünfzehn Jahren hat die konservative Biologie mit ihrem genetischen Determinismus einen regelrechten Schock erlitten. Die Vorstellung, dass wir von unseren Genen gesteuert werden – eine Vorstellung, von der die meisten von uns mehr oder weniger stark überzeugt sind – geriet durch die Ergebnisse des Human-Genom-Projektes ins Wanken. Bis dahin bestand das Fundament des genetischen Determinismus in der Annahme, dass jedem Protein in unserem Körper ein Gen zugeordnet ist, das als Schablone zur Proteinproduktion dient. Die Wissenschaftler nahmen an, dass in den dreiundzwanzig Chromosomenpaaren mindestens 120.000 Gene aufgefunden werden. Als Craig Venter und Francis Collins im Juni 2000 die Ergebnisse des Genom-Projektes im Weißen Haus bekannt gaben (es war mit mehreren Milliarden Dollar gefördert worden), war dies vergleichbar dem Umsturz des Weltbildes durch Kopernikus im Jahr 1543: Die Erde war demnach nicht Mittelpunkt des Universums – und die Gene sind demnach nicht der Mittelpunkt der Steuerung unserer Lebensvollzüge.
Statt der angenommenen 120.000 Gene fanden die Forscher beim Menschen nur 25.500 Gene – so viele wie bei der Maus und gerade mal 1.500 Gene mehr als beim primitiven Fadenwurm, der nicht einmal aus 1000 Zellen insgesamt besteht. In einem Interview mit dem SPIEGEL (26/2010) bekennt Craig Venter resignierend, der Nutzen der Erkenntnisse aus dem riesigen Projekt sei „…fast gleich null, um es genau zu sagen“ (S.128). Der Zellforscher Bruce Lipton resümiert in seinem Buch „Intelligente Zellen“, dass das Primat der DNS demnach hinfällig ist. Der neu erkannte Informationsfluss sollte besser „Primat der Umgebung“ genannt werden. Lipton weiter: „Die epigenetischen Beweise sind so zwingend, dass so mancher tapfere Wissenschaftler schon wieder Jean Baptiste Lamarck hervorkramt, den vielgeschmähten Evolutionstheoretiker, der fest davon überzeugt war, durch Umwelteinflüsse erworbene Eigenschaften könnten vererbt werden“ (S. 73). Lamarck – fünfzig Jahre vor Darwin – ging davon aus, „…dass die Evolution auf einer instruktiven, kooperativen Interaktion zwischen Organismen und ihrer Umgebung beruht“…(Lipton, S. 42).
Lernen und das, was wir „Intelligenz“ nennen, ist Ausdruck eines interaktiven Prozesses. Die Epigenetiker entdeckten jene Methylgruppen, die sich an die Gene lagern und diese an- und ausschalten. Bruce Lipton vergleicht die Gene mit einer Festplatte, auf der jede Menge Inhalte gespeichert sind. Diese müssen aber mittels Arbeitsspeicher und bestimmter Programme aufgerufen werden. Ob Programme genutzt werden oder nicht, hängt demnach viel weniger von der Beschaffenheit der Festplatte ab als von der Interaktion zwischen Individuum und Umwelt. Die Entwicklung der Intelligenz ist weitgehend „…davon abhängig, ob die Umwelt es einem Menschen überhaupt ermöglicht, sein genetisches Potenzial zu entfalten“ zitiert SPIEGEL-Autor Jörg Blech den Psychologen Ulman Lindenberger und stellt weiter fest: „Wenn man Saatkörner in einen schlechten Boden steckt, dann wird aus keinem von ihnen eine große Pflanze wachsen“ (Blech, Jörg, Spiegel 36/2010, S. 134). Die klein wachsenden Pflanzen weisen aber nicht auf schlechtes Saatgut hin – was Sarrazin ja immer wieder in seinem Buch behauptet und tendenziös belegt.
Sarrazin schreibt, dass die Intelligenz eines Menschen zu 50-80 Prozent erblich sei (S.91) und dass wir „schon aus rein demografischen Gründen“ … immer dümmer werden …“weil die bildungsfernen Schichten mit häufig unterdurchschnittlicher Intelligenz viele Kinder bekommen“ (S. 100). Er behauptet, „die Darwinsche Evolutionstheorie hat keine ernsthaften wissenschaftlichen Gegner mehr“ (S. 350). Wer also seiner (Sarrazins) Beweisführung nicht folgt, ist nicht ernst zu nehmen. Darwin zitierend meint er: „so neigen also die leichtsinnigen, heruntergekommenen und lasterhaften Glieder der Menschheit dazu, sich schneller zu vermehren als die gewissenhaften und pflichtbewussten Menschen“ (352). „Deshalb bedeutet ein schichtabhängiges unterschiedliches generatives Verhalten leider auch, dass sich das vererbte intellektuelle Potenzial der Bevölkerung kontinuierlich verdünnt“ (S. 91f).
Sarrazin hat die Entwicklung der letzten Jahre in seiner Argumentation nicht aufgegriffen. Von seinen eigenen Interessen geleitet, bezieht er sich auf eine Literaturauswahl, mit deren Hilfe er seine tendenziösen Theorien und Meinungen unterlegt. Mit einer Mixtur aus Charles Darwin, Gregor Mendel und einer Auswahl „passender“ empirischer Untersuchungsergebnisse braut er sich seinen provokanten Beweis-Cocktail zusammen. Die Vermengung von teils nachvollziehbaren und sicherlich nicht unrichtigen statistischen Daten mit wissenschaftlichen Begründungen, die er nicht verstanden hat und die er tendenziös zitiert, gibt seinen Ausführungen einen unangenehmen Beigeschmack. Der interessierte Laie fällt leicht auf diese Masche herein – das macht seine Interpretationen so gefährlich. Zum Thema „Intelligenz“ führt Sarrazin Zahlenbelege an, die das allerdings nicht halten können, was er damit zu beweisen vorgibt: Sarrazin zitiert den Psychologen Wilhelm Peters (geb. 1880), der anhand von Zeugnissen den Zusammenhang zwischen Schulleistungen von Eltern und Kindern sowie den Einfluss der Vererbung auf die geistige Leistung von Kindern errechnete. Er spricht von einem durch Vererbung zu erklärenden Zusammenhang von r=0.42. Er zitiert Detlef Rost, der von einer Langzeitstabilität der Intelligenzleistung bereits in der frühen Kindheit berichtet (r=0.50). Er wirft in seinen Belegen mit Zahlen um sich, die der normale Leser nicht einordnen kann. Was heißt r=0.50? Um diese Äußerungen Sarrazins besser einschätzen zu können, müssen wir einen Ausflug in die Testpsychologie machen: Wenn man eine Variable wie die Intelligenz messen will, braucht man dazu ein Messinstrument. Nehmen wir an, wir wollten die Intelligenz mit einem flexiblen Maßband messen. Wir behaupten, je größer der Kopfumfang ist, desto höher liegt die Intelligenz. Mit dem biegsamen Metermaß aus Kunststoff können wir bei mehrfacher Messung desselben Kopfes einen Wert ermitteln, der stabil bleibt: z.B. immer bei 58 cm liegt. Stellen wir uns nun einmal vor, wir hätten nur einen hölzernen Zollstock zur Verfügung. Dann wären die Messungen sicherlich nicht mehr präzise. Die Messgenauigkeit eines Messinstrumentes nennen wir Reliabilität (to rely on = sich verlassen, vertrauen). Nun haben wir in der Testpsychologie leider kein einziges Messinstrument, das einem Metermaß auch nur annähernd gleich kommt.
Die Genauigkeit einer Vorher-Nachher-Messung läge bei einem Korrelations-Koeffizienten (Ko-Relation = Maß des Zusammenhangs zweier Variablen) von r=1.0, wenn jede Nachmessung 100% identisch mit der Vorausmessung wäre. Sie läge bei r=0.0, wenn gar kein Zusammenhang bestünde. Korrelieren die Vorher-Nachher-Messwerte mit einem Wert von r=0.8, so beträgt der Messfehleranteil etwa 45% Prozent. Die Vorhersage von der ersten Messung auf die zweite Messung wäre weitgehend vom Zufall bestimmt. Erst ab r=0.95 spricht man von einem relativ messgenauen Instrument. Etwa diesen Wert erreichen sehr gute Intelligenztests – wie der WILDE-Test oder der Intelligenz-Struktur-Test (IST). Wobei die Messgenauigkeit bereits nach wenigen Monaten rapide abfällt: Während der Kopfumfang auch nach einem knappen Jahr immer noch 58 cm beträgt, vermindert sich die Stabilität des WILDE-Test im gleich Zeitraum auf r=0,8. Und wir haben oben gesehen, dass dann der Messfehleranteil schon bei etwa 45% liegt. Erst bei r=0.99 beträgt der Messfehler nur noch 10%.

Tabelle 1: Wie groß ist der Anteil des Messfehlers in Abhängigkeit vom Korrelations-Koeffizienten?

Nun wissen wir gar nicht, was wir mit dem Maßband messen, denn der Kopfumfang hat kaum etwas mit dem zu tun, was wir unter Intelligenz verstehen. Selbst mit einem total perfekten Messinstrument (r=1.0) tappen wir noch im Dunkeln solange wir nicht wissen, was eigentlich damit sinnvoll zu messen ist. Aber sind die Zeugnisnoten, die Güte des Schulabschlusses oder der Berufserfolg Kriterien für die Intelligenz? Und wenn „ja“, was ist Berufserfolg? Die Zufriedenheit im Beruf, der schöpferische Output oder die Höhe des Einkommens? Oder sind die Zeugnisnoten in der Schule doch etwa das perfekte Kriterium für die Beurteilung der Intelligenz?
Wir haben bisher gesehen: Das Maßband ist ein reliables (messgenaues) Messinstrument. Es ist aber zur Messung der Intelligenz untauglich – also invalide. Die Tauglichkeit eines Tests nennen wir „Validität“. Die Tauglichkeit eines Tests setzt voraus, dass das eingesetzte Messinstrument überhaupt zuverlässig misst.
In der Psychologie haben wir es zwar meist mit
• relativ genauen Messinstrumenten zu tun – wir haben aber
• weitgehend nur mindertaugliche Kriterien, anhand derer wir so etwas
wie Intelligenz 
bemessen könnten. 
Testet man Personen mit dem WILDE-Intelligenztest im Abstand von neun Monaten wieder, so ergibt sich eine Übereinstimmung der beiden Messwerte von r=0.8. Nun haben wir oben gesehen, dass bei einem solchen Wert ein großer Teil der gesamten IQ-Punkt-Verteilung dem Messfehler zuzuschreiben ist. Bei der Validität – also der Tauglichkeit – ergibt sich ein Korrelations-Koeffizient von 0.54. In Beziehung gesetzt wurde der Wert der IQ-Test- Ergebnisse mit dem späteren Ausbildungserfolg. Haben Bewerber einen hohen IQ-Wert erreicht und beenden die Ausbildung später mit einer „Sehr-gut“, dann korrelieren beide Variablen hoch miteinander. Ein Wert von 0.54 lässt aber keine sichere Prognose zu – wie wir wissen (der Anteil des Messfehlers beträgt dann mehr als 60%). Würde man mit einem solchen Test aus hundert Bewerbern zwanzig auswählen wollen, dann wäre der Einsatz aus Sicht der Ausbilder gerechtfertigt. Und dennoch würden damit viele Bewerber abgelehnt, die eigentlich das Potenzial hätten, eine Ausbildung gut zu absolvieren. Bleibt die Frage: Wie stark hängt eigentlich das Kriterium „Ausbildungserfolg“ mit dem zusammen, was wir als „Intelligenz“ bezeichnen? 
Auch der Intelligenz-Struktur-Test (IST) hat nur einen Validitätskoeffizienten von circa r=0.5. Das, was gemessen werden soll, hängt demnach zu siebzig Prozent vom Zufall ab. Ich möchte einen kleinen Einblick in den Aufbau des IST von Rudolf Amthauer geben, damit sich der Leser einen Eindruck über die Problematik der Testfragen machen kann. Ich zitiere einige Fragen aus der zweiten Auflage des IST, also aus einer älteren Form, da ich die aktuellen Items nicht öffentlich machen möchte. Am Stil der Aufgaben hat sich aber im Prinzip nicht viel verändert.
Aufgabentyp 1 (SE=Satzergänzen): eine leichte Aufgabe dieses Typs:
Zu einer Mahlzeit gehört (gehören) immer ….?
a) Lebensmittel b) Hunger c) Tisch d) Wasser e) Gedeck

Richtig ist immer nur eine Lösung: hier die Lösung a) Lebensmittel, denn die gehören immer zu einer Mahlzeit. Nehmen wir an, Mehmet bekommt zu Hause zu jeder Mahlzeit Wasser gereicht. Sein Vater betont immer, dass ein Glas Wasser zu jedem Essen gehört. Er kreuzt d) Wasser an. Dafür erhält er jedoch keinen Punkt. Sein IQ fällt am Ende niedriger aus.
Aufgabentyp 3 (AN = Analogien): eine mittelschwere Aufgabe
Nahrung : Gewürz = Vortrag : ?
a) Gliederung b) Ansprache c) Humor d) Rede e) Beleidigung
Mehmet weiß nicht, was das Wort „Humor“ genau bedeutet. Er überlegt, liest dann weiter und versteht am Ende die ganze Aufgabe nicht. Schon bei der vorhergehenden Frage hatte er aufgegeben. Sie lautete:
Zunge : bitter = Auge : ?
a) sehen b) schielen c) rot d) Licht e) Brille
Das Wort „schielen“ hat Mehmet noch nie gelesen. Da er einzelne Wörter nicht genau versteht, bleibt er immer wieder hängen. Sollte am Ende doch „rot“ richtig sein? Aber rot – die schöne Farbe der türkischen Flagge – ist doch für das Auge nicht so unangenehm wie für die Zunge der bittere Geschmack? Rot kam für ihn deshalb nicht in Frage (obwohl c) „richtig“ ist). Die anderen Antwortmöglichkeiten schieden aber für ihn aus. Mehmet war auf eine andere Analogieebene gewechselt. Die Zeit läuft ihm weg. Sie ist aber ein wichtiger Bestandteil der Intelligenzmessung. Nun kommt noch die Frustration hinzu…
Aufgabentyp 4 (GE = Gemeinsamkeiten): Musterfrage: Was haben die beiden Wörter Roggen und Weizen gemeinsam. Getreide ist die richtige Lösung. Deshalb ist das „Getreide“ auf Ihrem Antwortbogen in die freie Spalte unter Beispiel 04 eingetragen. Außerdem ist der Buchstabe „G“ unter Beispiel 04 durchgestrichen.
Leichte Testaufgabe:
Uhr – Thermometer G I M Z S
Mehmet muss den fünf Buchstaben erst einmal ein passendes deutsches Wort zuordnen können. Danach muss er entscheiden, ob er „I“ = Instrument oder „M“ = Messinstrument als richtige Lösung einträgt. Vielleicht fällt ihm der Begriff „Genauigkeit“ für den Buchstaben „G“ ein. Für I erhält er einen Punkt, für M=2 und für Genauigkeit keinen Punkt.
Zur Gemeinsamkeit der Begriffe „laut – leise“ erhält Mehmet zwei Punkte wenn er das Wort „Lautstärke“ einträgt, keinen Punkt, wenn er das Wort „Gegensätze“ hinschreibt. Wenn Mehmet weiß, dass laut und leise „Gegensätze“ sind, weiß er sicherlich auch, dass es sich um Lautstärken handelt. Ist die Antwort: „Gegensätze“ intellektuell der Antwort: „Lautstärke“ nicht ebenbürtig, obwohl es sich nicht um eine Gemeinsamkeit handelt?
Auch bei den Rechenaufgaben spielt die Sprache eine wichtige Rolle:
Testfrage 92:
In 2 Kisten sind 43 Gläser verpackt. In einer Kiste sind 9 Gläser mehr als in der anderen. Wie viele Gläser sind in der größeren Kiste?
Mehmet hat berechnet, dass in der einen Kiste 26 Gläser sein müssen und in der anderen Kiste 17 Gläser. Mehmet hilft seinem Onkel oft beim Verpacken von Material. Er weiß, dass Kartons für Gläser immer gleich groß sind. So kann man sie besser transportieren. Dann fragt er sich, wer denn 43 oder 17 Gläser bestellt? Und einer der beiden Kartons sollte doch dann wenigstens voll sein. Es gibt aber keinen Karton, der genau 26 Gläser fasst. Vier mal sechs oder fünf mal fünf Gläser kann er sich vorstellen. Soll da vielleicht doch etwas ganz anderes gefragt werden? Die eine Kiste soll ja „größer“ sein – warum eigentlich? Und warum sprechen die von „Kiste“. Kisten sind für ihn aus Holz. Und Gläser verpackt man in Kartons…. Egal: Er kreuzt 26 an. Viel wertvolle Zeit ist vergangen, die ihm für andere Aufgaben nicht mehr zur Verfügung stehen. Kritische Intelligenz kann manchmal auch schädlich sein.
Schon bei der Aufgabe 88 hatte er sich lange aufgehalten:
Für eine Legierung nimmt man 2 Teile Silber und 3 Teile Blei. Wie viel gr. Blei braucht man für die Herstellung von 15 gr. dieser Legierung?
Mehmet hatte bisher nur das Wort „Regierung“ kennengelernt. Zunächst dachte er an einen Tippfehler. Nach einigem Zögern und Überlegen strich er die Lösung „9“ an. Wieder war wertvolle Zeit verloren gegangen.
Mehr als die Hälfte der Untertests ist sprachbezogen. Wer mit den Feinheiten der Sprache nicht klar kommt, wer zweimal lesen muss, um den Sachverhalt zu verstehen, wer genau sein will, wer kritisch nachdenkt, bleibt unintelligent. Herr Sarrazin: Wollen Sie uns wirklich weismachen, dass Menschen, die solche Aufgaben weniger gut (weniger schnell) lösen als sprachtrainierte Oberschichtkinder „dumm“ sind? Dass sie weniger intellektuelles „Potenzial“ haben? Die Potenziale können wir mit sprachbezogenen Tests nicht ermitteln. Dazu müssten sprachfreie Tests eingesetzt werden.
Wir wissen immer noch nicht, was Intelligenz ist! Es gibt so viele Definitionen wie es Autoren zu diesem Themengebiet gibt. Die einzig richtige Definition lautet übrigens: „Intelligenz ist, was der Intelligenztest misst!“ Das ist zwar unbefriedigend, aber zumindest zutreffend. Wenn die Tauglichkeit eines Intelligenztests an dem späteren Berufserfolg gemessen wird, dann misst der Test nicht die „allgemeine Intelligenz“, sondern den späteren Berufserfolg. Und wird er an den Schulnoten validiert, dann misst er den Schulerfolg – basta! Und für beide Prognosen ist er unterschiedlich gut tauglich.
Sarrazin behauptet, dass man mit Anspruch auf wissenschaftliche Seriosität gegen die (seine) vorgetragenen Gedanken kaum etwas vorbringen könne. Das ist ziemlich anmaßend und selbstgefällig. Sarrazin hat in seinem Buch eine Menge bedenkenswerter Anregungen gegeben. Er fordert immer wieder die Frühförderung der Kinder aus armen und weniger gebildeten Familien ein. Das ist der Königsweg aus der bestehenden Misere. Insofern setzt sein Beitrag wichtige Zielmarken. Die Art seiner Beweisführung und die herablassend klingenden Neben-töne geben dem ganzen Werk jedoch einen scharfen Beigeschmack.
Alfred Adler, der bedeutende Wegbegleiter Freuds und Jungs sagte 1936: „Man redet von Minderbegabung oder von verzögerter Entwicklung….. Ein Kind ist entweder schwachsinnig oder intelligent. Wenn ein Kind mit normaler Intelligenz in seiner Entwicklung zurückbleibt, dann gibt es dafür einen Grund, und es ist möglich, ihm zu helfen“ (S. 30). Ich habe erlebt, wie ermutigte Jugendliche ihre IQ um 15 bis 25 Punkte gesteigert haben. Packen wir’s an – mit guter Pädagogik und einer guten Portion Optimismus. Mit ätzender Miesepeterei à la Sarrazin kommen wir nämlich nicht weiter.
Übrigens: Ein niedriger IQ-Wert sagt nichts über die wirkliche Leistungsfähigkeit aus – so wie Langsam-Fahren nicht gleichbedeutend ist mit einer niedrigen PS-Zahl.

 

Literatur:
Adler, A.: Lebensprobleme – Vorträge und Aufsätze, Fischer, 1994
 Lipton, B.: Intelligente Zellen – wie Erfahrungen unsere Gene steuern, KOHA, 2008 Sarrazin, Th.: Deutschland schafft sich ab, DVA, 6. Auflage, 2010
 SPIEGEL, 26/2010: „Wir wissen nichts“, Spiegel-Gespräch mit Craig Venter SPIEGEL, 36/2010: „Was das Hirn begehrt“, Artikel von Jörg Blech
© Dr. Markus Jensch, 2011/2017

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